Zuletzt aktualisiert am 1. August 2024
Sommer 1996. Mein Start in Vechta. Stoppelmarktsmontag. Einen Tag später die erste Dienstbesprechung. Der Kollege, die Kirchenmusikerin, die Küsterin, die Pfarrsekretärin, der Friedhofsgärtner. Und ich. Der Mann vom Friedhof erzählt von geplünderten Gräbern. Angehörige finden nur wenige Tage, nachdem sie ihr Grab bepflanzt haben, nichts davon mehr vor. Nach Kaninchen oder anderen Nagern sieht es nicht aus. Eher nach Diebstahl. Wir beschließen, das bei der Polizei zur Anzeige zu bringen.
Einige Zeit später ist der Fall geklärt. Weniger durch Ermittlungen der Polizei als durch Kommissar „Zufall“. Jemand bemerkt einen Menschen, der mit vielen Pflanzen auf seinem Fahrrad davon radelt. Und folgt ihm. Zu einem anderen Friedhof. Und sieht zu seiner Verwunderung, wie die Pflanzen dort auf Gräber gepflanzt werden. Meldet das beim Friedhofsgärtner. Der herausfindet, dass da jemand Grabpflege macht. Und sich die Pflanzen auf unserm Friedhof besorgt. Der Grabräuber wird gestellt. Ende vom Lied. Es ist vorbei.
Ich war schockiert. Von so was hatte ich noch nie gehört. Es lag jenseits meines Vorstellungsvermögens. Die Totenruhe ist doch zu wahren! Dachte ich immer. Und fragte mich: „Wer macht denn so was? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Sagt Jesus.
Sommer 2024. Eine Frau hört meinen Namen an der Kasse, als ich bezahle. Ich packe meinen Korb und bin schon fast aus dem Laden raus. Da kommt sie hinter mir her und ruft „Sind Sie nicht die Pastorin?“ Ich nicke, halte inne. Sage: „Bin aber schon im Ruhestand.“ Doch das hält sie nicht auf. „Haben Sie einen Moment Zeit? Ich muss Ihnen was erzählen!“ Rasch stelle ich meinen Korb ab und folge ihr. Sie ist die Putzfee, und hinten im Laden hat sie ihre Tasche. Sie holt ihr Handy raus. „Ich muss Ihnen was zeigen!“
Während sie nach Fotos sucht, erzählt sie. Ob das denn wohl normal sei? Ihr Lebensgefährte sei vor ein paar Jahren gestorben. Sie habe ihm zum Todestag Blumen gebracht. Aufs Grab. Seine Lieblingsblumen. Als sie einen Tag später wieder dort gewesen sei … „Schauen Sie mal!“ Sie hat die Bilder gefunden. Lauter abgeschnittene Blütenstengel! Ich kann sie so schnell gar nicht zählen. Bestimmt so 20 Stengel mit schönen gelben Blüten.
„Das ist doch nicht normal!“ ruft sie. Ich stimme ihr zu. Normal ist das nicht. Das sieht schon fast bösartig aus. „Was kann man da machen?“ fragt sie. „Mhhh, Sie können zum Friedhofswärter gehen. Und den Vorfall melden. Ob man den Täter, die Täterin findet, kann ich Ihnen nicht versprechen. Wohl eher unwahrscheinlich. Aber seine Aufmerksamkeit wird steigen.“ Wieder bin ich schockiert. „Wer macht denn so was? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Sagt Jesus.
Ja, wir sind die Lebenden. Sorgen wir uns zu viel um die Toten? Übertreiben wir es gar? Ich denke nicht. Die Urnenbestattung wird immer beliebter, ein kleineres Grab also. Oder gleich ein Rasengrab. Andere entscheiden sich für die althergebrachten Erdgrabstätten. Das Grab. Ort des Gedenkens. Des Erinnerns. Der Einkehr. Der Zwiesprache mit den Verstorbenen. Da war ja viel Liebe. Und die Liebe, die hört niemals auf. Und als Zeichen der Liebe – die Blumen, die blühenden Pflanzen.
Sommer 2024. Als ich mal wieder in meinem Heimatort bin, besuche ich das kleine Urnengrab meines Vaters. Wo er seit 2009 begraben ist. Ein großer Stein bedeckt das Grab. „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn, Halleluja!“ ist darauf zu lesen. Immergrün und ein Rosenstock sind darauf gepflanzt. Beide haben schon geblüht. Mächtig hat die Rose ausgetrieben. Rankt hinüber bis aufs Nachbargrab. Schnell hole ich beim Gärtner etwas, woran ich sie binden kann. Nun ist alles wieder so, wie es sein soll. Ich höre das Halleluja der vielen Singvögel. Sage „Danke, Papa!“ Und verabschiede mich.
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Sagt Jesus.
Sommer 2010. In der Leichenhalle liegt sie aufgebahrt, die alte Frau. Eine Angehörige will Totenwache halten. Tag und Nacht. Bis zum Tag der Beerdigung. Ein ungewöhnlicher Wunsch. Der uns alle berührt. Den Kollegen, die Organistin, die Küsterin, die Kirchenbürosekretärin, den Friedhofswärter. Und mich. Wir lassen es zu. Trotz sommerlichen Wetters ist der Raum eiskalt. Die Kühlung läuft. Ich erinnere mich. Ich habe doch noch den tollen Schlafsack von meiner Skandinavienreise. Der hält warm, auch bei Minustemperaturen. Die Totenwache kann beginnen. Und wir im Team, wir erzählen noch lange davon.
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Sagt Jesus. Und: „Du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“
Die Toten sorgen für sich selbst. Das Leben soll blühen. Gottes Reich soll wachsen. Und wir, die Lebenden gemeinsam unterwegs. Mitten im Leben – vom Tod umfangen. Den Tod ins Leben hineinholen. Denn er gehört dazu. Von Anfang an. Behütet und beschützt und bewahrt unter Gottes Segen. Ein Leben lang. Vom ersten Atemzug an bis zum letzten. Sommer auf dem Friedhof. Gehen Sie mal hin.
Pfarrerin i.R. Hiltrud Warntjen