Siegen und verlieren

Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023

Ich erinnere mich gut an meine Oma. Zwei Weltkriege hatte sie erlebt, durchlebt, ja überlebt. Zweimal alles verloren. Zweimal besiegt. Das ließ sie nicht los. Sie musste davon erzählen. Das alles immer wieder durcharbeiten. Wenn ich sie besuchte in ihrem Dorf in Ostfriesland in den Schulferien, war es fast immer irgendwann so weit, dass sie erzählte. Wie schrecklich das alles war. Was für schwere Zeiten. Und nach dem Krieg, alles weg, alles verloren. Zweimal ganz von vorne anfangen. Wie gut, in einer Zeit aufzuwachsen ohne Krieg.

Auch sonst hatten wir Kinder der 50er, 60er Jahre oft den Krieg vor Augen. Männer mit amputierten Beinen im Rollstuhl oder Kriegsblinde zu sehen, das war Alltag. Normal. Nicht nur mir war deutlich: Nie wieder! Nie wieder Krieg! Friede ist das Ziel. Selig sind, die Frieden schaffen, sagt Jesus. Ja, ich wurde in Friedenszeiten groß. Die doch nur ein kalter Friede waren. Denn es war ja weiter Krieg. Kalter Krieg bei uns. Heiße Kriege in anderen Ländern. Siegen und Verlieren. Sieg und Niederlage.

Im 1. Johannesbrief lese ich: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ (1 Joh 5,4) Das Siegen hat einen bitteren Beigeschmack. Schmeckt nach Blut und Leid. Riecht nach Schuld. Zu lange haben wir siegen wollen. Auch als Christen und Christinnen, besonders als Kirchen. Immer wieder falsch gelegen, wenn wir siegten. Standen wir auf der Seite der Sieger, dann standen wir falsch.

In den Briefen der ersten Christen lese ich viel von der Freiheit von der Angst. Wer von Gott geboren ist, hat die Welt besiegt. Ohne jeden Krieg! Ganz ohne Sieg im herkömmlichen Sinn. Denn der Sieg, von dem hier die Rede ist, ist der Sieg der Niederlage, des Verzichtes, der Ohnmacht: der Sieg am Kreuz. Wer die Welt besiegt hat, muss nicht mehr siegen. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“

Wer nicht mehr siegen will, braucht keine Angst mehr zu haben. Denn Siegen verlangt Angst. Davon haben wir schon viel zu viel. Angst. Anpassungsdruck. Wer nicht funktioniert, wer sich nicht anpasst, wird ausgestoßen, benachteiligt, geächtet. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Das befreit. Ich wünsche mir eine Kirche, die den Weg des Friedens geht. Die Räume öffnet für die, die Angst haben. Die sich unfrei fühlen. Denen es schlecht geht. Seelisch. Und auch materiell.

In den letzten Jahren las ich viel. Entdeckte Christa Wolf. Die große DDR-Schriftstellerin. In ihrem Buch „Kassandra“ schreibt sie: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.“ Sieg und Angst. Sie hängen so eng zusammen. Wer siegen will, schürt Angst. Wer gesiegt hat – und Besiegte gemacht hat – baut auf Angst. Die wir allen kennen. Angst vor Armut, vor Gesichtsverlust, Statusverlust. Vor Altersarmut. Arbeitsverlust. Vor den Kindern und ihrer Kraft oder ihrem Schweigen. Angst, nicht mithalten zu können bei der Digitalisierung. Bei der Selbstoptimierung durch Joggen, gesunde Ernährung und seelische Ausgewogenheit.

Viele haben Angst um ihre Kirche. Wer tröstet mich, wenn ich Trost brauche? Wer steht mir bei im Sterben? Mit wem kann ich ehrlich reden? Bin ich meiner eigenen Wahrheit auf der Spur? Oder lüge ich mich und andere an? Da sind so viele Bereiche, in denen wir siegen wollen: ich will Recht haben, will mich durchsetzen. Will behalten, was einmal da ist. Dafür werde ich jetzt kämpfen. Da gebe ich nicht nach. Da bleibe ich hart. Bis hierher und keinen Schritt weiter! Das hat Konsequenzen! Ich habe es gewusst. Jetzt kommt es so, wie ich es vorgesagt habe. Siehste!

Kirche als Gegenwelt. Mein Traum. Gemeinschaft erleben. Menschen helfen einander, stehen einander bei. Tauschen ihre Ängste und Nöte offen aus. In der großen Freiheit der Kinder Gottes. Der Christenmenschen. Der Freiheit vom Siegen. Der Freiheit vom Siegen wollen. Der Freiheit von der Angst. Die Freiheit eines Christenmenschen kommt aus dem Geburtsrecht der Gotteskinder. Ich glaube: die Freiheit von der Angst hat mit der Freiheit vom Siegen zu tun. Das klingt wie ein Bekenntnis. Beweise habe ich nicht dafür.

Außer, ich tue es, außer, ich lebe es. Vieles von dem, was wir glauben, ist Wort. Ist Ermutigung. Du bist ein Gotteskind. Du brauchst keine Angst zu haben . Die Bibel wimmelt davon. Gott stellt meine Füße auf weiten Raum. Geh und sieh, sagt Gott. Segen sein. Tun, was dem Frieden dient. Selig sind die Frieden stiften. Nichts mehr stehlen. Keine anderen Götter mehr. Das Siegen verlernen. Ich bin heilig. Wie fühlt sich das an? Für mich? Für Dich? Für Sie?

„Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.“ Ich glaube: alle, die von Gott geboren sind, haben Vertrauen. Vertrauen setzt das Siegen außer Kraft. Eine Ansage. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Ich glaube an die Kraft der Worte! „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Unser guter Ort ist die Ohnmacht. Die Demut. Einfachheit. Selbstlos sein. Selbstbeschränkung. Schlichtheit. Zärtlichkeit. Behutsamkeit. Mitleiden. Auf dem Weg des Friedens! Bleiben Sie behütet!

Pfarrerin i.R. Hiltrud Warntjen