Nicht aufhören vom Frieden zu träumen

Zuletzt aktualisiert am 30. Oktober 2023

Ja, ich will nicht aufhören. Nicht aufhören, vom Frieden zu träumen. Du spinnst, denken jetzt sicher manche. Merkst Du nicht, was los ist? Oh ja, das merke ich. Wie es dies Lied aus meinem Kirchengesangbuch (617) singt: „Unfriede herrscht auf der Erde / Kriege und Streit bei den Völkern / und Unterdrückung und Fesseln / zwingen so viele zum Schweigen.“ Oft haben wir das gesungen in Friedensgottesdiensten. Und dann eingestimmt in den Refrain: „Friede soll mit euch sein, / Friede für alle Zeit! / Nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es sein.“

Friede soll mit euch sein. Mit mir sein. Mit uns. Mit allen. Mit allem, was lebt. Menschen und Tieren und Pflanzen. Mit der ganzen Schöpfung. Vielleicht bin ich weltfremd? Bekomme ich nicht mit, was in der Welt los ist? Oh ja. Und doch will ich nicht aufhören. Nicht aufhören, vom Frieden zu träumen. Mit dem Traum vom Frieden bin ich groß geworden. Mit dieser großen Sehnsucht. Mit dem Gebet aus der Bibel: „Gott, richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ (Lukas 1,79)

Am 22. Oktober 1983, vor 40 Jahren also, fand eine aufsehenerregende Menschenkette für den Frieden statt. Gegen Atomwaffen. Mit rund 400.000 Menschen. Verbanden sich für den Frieden – über 108 Kilometer zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Eine riesige “Volksversammlung für den Frieden”. Eine Menschenkette von Friedensträumern. Und heute? Wage ich es noch, vom Frieden zu reden in diesen Tagen? Einmal mehr scheint die Welt aus den Fugen geraten. Unsagbares Leid. Gewalt. Mord. Vergeltung. Beinahe in Echtzeit auf unser Handy, an den Küchentisch und auf unsere Couch getragen.

Obendrein scheint es fast so, als mache der neue Krisenschauplatz den anderen beinahe vergessen. Diesen fürchterlichen Krieg im Osten Europas. Der doch, so scheint es, erst gestern noch unsere Nachrichten besetzte. Und unsere Herzen ängstigte. Wann hat es nur ein Ende mit diesem Leid? Mit diesem Hass? Mit den zahllosen Unmenschlichkeiten, die einem die Sprache verschlagen? Was für eine Welt?! Und doch will ich weiter vom Frieden träumen. Dieser Traum gibt mir Kraft. „Gott, richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“

Aktuell gibt es weltweit viele Kriege. Nur wenige davon gelangen in unseren Blick. Offenbar sind viele Kriegsschauplätze es nicht wert, in unsere Nachrichten zu gelangen. Nicht wert, dass über sie berichtet wird. Seit kurzem richtet sich der Blick vor allem auf die schreckliche Gewalt in Israel und Palästina. Wo es wieder sehr viele Tote gibt. Sehr viel Trauer und Verzweiflung. Wut auch und Hass. Und doch auch andere Stimmen. Die nicht aufhören, nicht aufhören wollen, vom Frieden zu träumen.

Wie zum Beispiel der vor fünf Jahren verstorbene israelische Friedensaktivist Uri Avnery. Der so vom Frieden träumte: „Ich bin optimistisch im Sinne, / dass ich darauf gefasst bin, / dass sehr schlimme Sachen passieren werden. / Warum bin ich optimistisch? / Wenn das Allerschlimmste passiert … was dann? / Wird sich irgendwas an der Lage, / an den Grundelementen der Lage ändern? / Am nächsten Tag werden wir wieder /  vor dem selben Problem stehen, / dass wir zwei Völker in / diesem Lande haben, / und zwei Völker in Jerusalem haben. / Und dass es überhaupt keine / andere Alternative gibt, /  als zwischen diesen beiden /  Völkern Frieden zu machen.“

Ja. Nicht aufhören. Nicht aufhören wollen, vom Frieden zu träumen. Haben Sie von Noy Katsmans gehört? Von diesem jungen Israeli, dessen Bruder Hayim von der Hamas ermordet wurde? Auch so ein Friedensträumer. Er fragt: „Fühle ich mich besser, wenn so viele Menschen in Gaza getötet werden? Nein.“ Und fragt weiter: „Bringt das meinen Bruder zurück?“ Wieder lautet seine Antwort schlicht: „Nein.“ Da will einer, trotz allem, keine Rache. Keine Vergeltung. Will nicht aufhören, vom Frieden zu träumen.

Mein Friedenslied aus dem Kirchengesangbuch singt weiter: „In jedem Menschen selbst herrschen / Unrast und Unruh’ ohn’ Ende, / selbst wenn wir ständig versuchen, / Friede für alle zu schaffen.“ Fange ich mit dem Frieden bei mir an. Träume ich weiter vom Frieden. Wehre dem Hass, der Gewalt, dem Unrecht … friedlich. „Gott, richte meine Füße auf den Weg des Friedens.“ Darum traue ich auf Gottes Zusage unseres Gottes. Der uns den Frieden, den Schalom, vor Augen malt. Eine Welt, in der alle haben, was sie zum Leben brauchen. In der Menschen auf einander Acht geben. Sich gegenseitig helfen und unterstützen.

Ja. Wir sollten nicht aufhören, vom Frieden zu träumen. Gerade um all der Opfer willen. Wegen des unaussprechlichen Leids. Ja. Ich will weiter vom Frieden träumen. Vom Frieden zu erzählen, gerade und erst recht in diesen Tagen. In den Spuren Jesu. Der mein Meister ist und mein Trost. Auch wenn ich als Friedensträumerin mal wieder zwischen die Fronten gerate. Denn genau da, zwischen den Fronten, auf einem Esel, ist Jesu Platz. Und darum auch meiner. „Friede soll mit euch sein, / Friede für alle Zeit! / Nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es sein.“

Hiltrud Warntjen, Pfarrerin i.R.