Ein Kratzer im Lack

Das war vielleicht ein Tag! Direkt am Morgen fing das Chaos an: Auto kaputt. Nicht meins, aber das meiner Frau. Die feststrukturierte Morgenroutine ist also schon einmal dahin. Natürlich habe ich an genau dem Tag um neun Uhr einen Termin in Vechta und brauche, nachdem ich ihr meins geliehen habe, schleunigst selbst ein motorisiertes Gefährt. Dankenswerterweise ließ sich trotz der Herrgottsfrühe in Windeseile von einer guten Seele ein Auto ausleihen. Die morgendliche Hektik schien überstanden. Auf dem Weg von Friesoythe nach Vechta atme ich erst einmal durch. Doch gerade bin ich angekommen, erwartet mich das nächste Elend: Der Kampf um die verschwindend geringen Parkplätze. Auch im Parkhaus ist nichts mehr frei. In Konkurrenz mit zahlreichen anderen Parkplatzjägern drehe ich unter Zeitdruck meine Runden und dann passiert es: Ich rangiere das ungewohnt lange Auto mit den (wie mir dann im Nachhinein klar wurde) kaputten Abstandspiepsern hin und her – und touchiere eine Wand. Ein dicker Kratzer im Lack. So etwas tut doch einfach nicht Not! Und in einem ausgeliehenen (!) Auto schon einmal gar nicht. Der Tag war gelaufen.
Für die Termine im weiteren Tagesverlauf hieß es dann um der Professionalität willen zusammenreißen und sich nichts anmerken lassen, aber meine Laune war im Keller. Ich Dussel. Wie unangenehm! Von einem Moment auf den anderen. Die Fahrzeugbesitzerin reagierte schließlich tiefenentspannt, aber dieses miese Gefühl war dennoch gekommen, um zu bleiben. Hauptsache, dieser Tag ist irgendwann zu Ende, denke ich.
Aber dieser Tag war noch nicht zu Ende.
Und Gott sei es geklagt, dass er es noch nicht war. Denn an ihm geschah der dramatische Unfall auf der B401. Von einem Moment auf den anderen kamen fünf Menschen ums Leben. Wurden aus dem Leben gerissen. Gerissen aus dem Leben ihrer Familien, aus den Freundes- und Kollegenkreisen. Ein so schrecklicher Unfall, dass selbst gestandene Einsatzkräfte an ihm zu knapsen haben. Vielen Menschen in der Region und darüber hinaus geht diese Katastrophe sehr nahe. Viele macht das betroffen. Wohl jeder hier kennt diese Strecke, etliche befahren sie Tag für Tag. Was mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Der Kontrast zwischen meinem lächerlichen Kratzer im Lack und der Dimension der Zerstörung dieses Unfalls. Größer könnte dieser Kontrast nicht sein. Und doch ist es in beiden Fällen ein Augenblick, der den Unterschied macht. Sowohl bei einer Lappalie, die eigentlich nicht der Rede wert ist und einer solch schrecklichen Katastrophe. Von jetzt auf gleich. Ohne jede Vorwarnung. Von einem Moment auf den anderen. Wie zerbrechlich das Leben ist.
Was auch immer Sie heute vorhaben, ärgern Sie sich nicht zu sehr über Kleinigkeiten. Dafür ist das Leben zu kurz.

Johannes Rohlfing, Pfarrer in Friesoythe