Tiefbegabt

Zuletzt aktualisiert am 28. Februar 2022

Pfarrer Jürgen Schwartz

Liebe Leserinnen, lieber Leser!

Dass die beiden Freunde sind, kann man kaum glauben. So unterschiedlich wie die beiden Jungs sind, würde man nie darauf kommen, dass sie „durch dick und dünn“ gehen. Oskar ist ein richtiger Durchblicker; er begreift alles schnell; ihm fällt es leicht, Schlüsse zu ziehen und zu kombinieren. Um Gefahren zu vermeiden und das Unfallrisiko zu minimieren, geht er mit einem Sturzhelm durch das Leben. Er gilt als hochbegabt und bezeichnet sich auch selbst so. Ganz anders Rico. Er ist nicht nur drei Jahre älter als Oskar, sondern: es fällt ihm auch schwer, so zu denken wie die anderen und sich zu konzentrieren. Von sich sagt er: „… ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte aber auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem.” Rico (er-)findet dafür ein neues Wort; im Vergleich zu Oskar, der hochbegabt ist, nennt sich Rico „tiefbegabt“.

Was für ein tolles Wort! – Ich habe es – leider erst jetzt – in den Büchern von dem Autor Andreas Steinhöfel kennengelernt: „Tiefbegabt“!

Das Wort zeigt eine andere Richtung und Perspektive für unseren Umgang miteinander auf. Es sagt eben nicht: „Du bist weniger begabt.“ Es sagt: „Du bist anders begabt. Deine Begabung und deine Fähigkeiten gehen in eine andere Richtung … nämlich nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe. Und dort, in der Tiefe, finden sich ganz andere Talente und Schätze als in der Höhe.“

Mir fallen Kinder und Jugendliche ein, die ich in der Schule und im Konfirmandenunterricht, in Kinder- und Jugendgruppen oder auch bei Besuchen in der Familie erlebe.

Da ist zum Beispiel Martin; er kann Eindrücke intensiver erleben als andere Kinder, und er braucht Unterstützung, alles zu verarbeiten.

Diana hat eine ganz besondere Art, mit Tieren umzugehen; selbst der große, Zähne fletschende und entweder bellende oder knurrende Hund der Nachbarschaft wird in ihrer Nähe zahm und lammfromm.

Und Viktor malt sich immer wieder aus, wo Gott wohnt und wie der Himmel wohl aussieht, in dem sein verstorbener Opa, den er so sehr vermisst, jetzt lebt.

Oskar, Rico, Martin, Diana und Viktor … und all die vielen anderen Kinder sind Menschen, ob hochbegabt oder tiefbegabt, ob unauffällig oder (sehr) lebhaft. Wir begegnen ihnen in der Schule, auf den Spielplätzen; manche sind unsere Söhne und Töchter, Enkel und Nichten. Sie so anzunehmen wie sie sind, ist nicht immer leicht – das gilt nicht nur für die Familien, sondern auch für Erzieherinnen in den KiTas und die Lehrkräfte in den Schulen. Und doch: jedes Kind ist einzigartig und hat ein Recht, gefördert und beachtet, wertgeschätzt und akzeptiert zu werden. Jeder Mensch ist mehr als seine Erfolge oder Misserfolge. Es ist eine bleibende Aufgabe, nicht nur daran zu erinnern, sondern auch zu leben: Du bist und bleibst kostbar und wertvoll, ob hoch- oder tief- oder normal-begabt. Und den Kindern soviel Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass sie voller Stolz sprechen: „Ich danke dir, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin“ (Psalm 139,14)

P.S.: Im Buch von Andreas Steinhöfel „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ finden sich noch manch weiteren Kostbarkeiten und Hinweise.

 

Zur Person

Jürgen Schwartz ist Pfarrer in den evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden Lastrup und Lindern