Lieber das Sprichwort im Mund als das Gedicht im Bücherregal

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der…“ Ja, wer ist es?
Beantworten kann ich das gerade noch. Aber wie es danach weitergeht, da wird es bei mir dünn. Bei sehr lebenserfahrenen Gemeindegliedern habe ich es hingegen schon häufig erlebt, dass noch Strophe um Strophe von klassischen Gedichten sitzt. Und das, obwohl die Schulzeit bisweilen über sechzig Jahre zurücklag. Das beeindruckt mich jedes mal aufs Neue. Denn ich muss gestehen, kein einziges Gedicht aus der Schulzeit mehr im Kopf zu haben. Geschweige denn einfach so in der Zwischenzeit eins auswendig gelernt zu haben. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis bin ich da in guter Gesellschaft. Und nach Gesprächen mit unseren Konfirmanden zu urteilen sind meine Erwartungen hinsichtlich einer grundlegenden Trendwende vorsichtig ausgedrückt gedämpft. Ich stelle sogar vermehrt fest, von unseren Jugendlichen irritierte Blicke zu ernten, wenn ich Sprichwörter und Redewendungen benutze. Weil sie die einfach nicht mehr (bzw. noch nicht!) kennen. Und wenn ich den Verlust des Kulturguts Gedicht mit ein wenig Bedauern hinnehme (da wasche ich meine Hände ja selbst nicht in Unschuld und vielleicht hat auch einfach alles seine Zeit), will ich das beim Sprichwort schlichtweg nicht akzeptieren.
Es ist doch allein schon faszinierend, wie sich überhaupt bestimmte feststehende Formulierungen über Generationen und weite Distanzen hinaus etabliert haben.
Sowohl in Flensburg als auch in Garmisch-Partenkirchen gilt der Prophet nichts im eigenen Land. Und in Aachen weiß man genauso wie in Görlitz: Was aus den Augen ist, ist aus dem Sinn. Ohne social media, ohne Telefon und SMS haben sich diese Lebensweisheiten verbreitet. Das erklärt sich für mich nur dadurch, dass sie eine Wahrheit über das Leben unmittelbar einleuchtend und treffend auf den Punkt bringen. Und sie dadurch die Zeiten überdauern.
Aber das tun sie nur, wenn sie auch tatsächlich benutzt werden und nicht in Vergessenheit geraten. Also, liebe Leser, lasst uns dieses Kulturgut erhalten und Sprichwörter und Redewendungen benutzen, was das Zeug hält! Schließlich werden ganz bestimmt keine Perlen vor die Säue geworfen, wenn etwa immer wieder betont wird, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Und beim Ausposaunen von Sprichwörtern ergeht es niemandem so, dass einem die Leviten gelesen werden – da gebe ich Ihnen Brief und Siegel drauf. Wie den eigenen Augapfel müssen Sprichwörter nun auch nicht behütet werden, aber es lohnt sich, sie zu bewahren. Wir ernten schließlich, was wir säen. Und wer weiß, vielleicht geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Bibelkundige Leser sind übrigens herzlich eingeladen, diesen Text auf Herz und Nieren nach Schriftzitaten zu durchsuchen, da gibt’s nämlich so einige. Und um abschließend den Beweis zu führen, dass Ausnahmen tatsächlich die Regel bestätigen: Bei Sprichwörtern gilt, Schweigen ist Silber und Reden ist Gold.

Johannes Rohlfing, Pfarrer in Friesoythe