Du, meine Seele, singe!

„Du meine Seele, singe!“ Ich liebe dieses schwungvolle Glaubenslied von Paul Gerhardt. So aufmunternd, so auffordernd. Gerade wenn meine Seele mal wieder ganz erschöpft ist. Von den Eindrücken, die sie verarbeiten muss. Von den fürchterlichen Nachrichten aus aller Welt von Leid und Krieg. Von den Worten oder Erlebnissen, die ihr schadeten. Von Erinnerungen, die schwer auf ihr lasten. Viele Gründe, warum die Seele ganz unten sein kann.
Und dennoch: „Du meine Seele, singe!“ Die Melodie dieses Liedes holt meine Seele ab. In der Tiefe. Der Komponist des Liedes, Johann Georg Ebeling, wusste offenbar, wo die Seele manchmal hängt. Wenn man sie nicht gerade gemütlich irgendwo oben baumeln lässt. Sondern sie von ganz unten erst mal raufholen muss. Die Melodie dieses Liedes ist eine echte Ermutigung.Trägt uns mit unserer Seele von den tiefsten Tönen hinauf bis in die höchsten Sphären.
Ein steiler Aufstieg, den dieses Lied nimmt: Vom tiefen B bis zum hohen D in nur fünf Tönen! Das macht lebendig. Das macht so wach, dass auch die traurigste Seele auffliegt. Wenn die Tonfolge ausgerechnet in dem Moment den höchsten Ton erreicht, wenn im Text das Wort „Seele“ auftaucht. Gleich führen die Töne wieder zurück in die Tiefe. Es reißt dich rauf, es reißt dich runter! So, wie das im richtigen Leben auch ist. Wieder am tiefsten Ton angekommen, ist die Tiefe nicht mehr so deprimierend und schwarz. Sondern am Ende der ersten Zeile bei dem Wort „schön“.
„Du meine Seele, singe!“ Singe vor Freude. Singe im Leid. Singe ein Leben lang. Vom Leben und von der Freundschaft. Von so vielen Beziehungen, von so vielen  Erinnerungen. Von so viel Wertvollem und und doch auch von so viel Abbruch. Von Verletzungen, Verpasstem, von so vielen Abschieden. Die Freundin, die auf eine andere Schule geht. Der Freund, der plötzlich ganz anders denkt, die Freundin, die plötzlich im Ausland wohnt. Der Freund, an den ich zwar denke, aber dann doch viel zu selten anrufe, obwohl mich Gedanken und Sehnsucht quälen.
Da ist der Umzug in eine andere Stadt. Es ist wie eine andere Welt. Eine andere Umgebung, alles ist neu. Fühlt sich an wie selbst gewählt. Was es auch ist. Gerade bin ich umgezogen. Der vierzehnte Umzug in meinem Leben. Manchmal wär ich gern geblieben. Freundschaften vertiefen. Einander begegnen. Ein Stück miteinander gehen. Kleine Stückchen vom Glück teilen. Und vom Leid. Weitergehen und leben. Meine Seele freut sich. „Du meine Seele, singe!“
Manchmal schaue ich mit Tränen nach hinten, zurück. Finde viele Menschen nicht mehr. Dann werde ich traurig, meine Seele weint. Ach, wär doch die Freundin, der Freund nicht so weit! Manche Freundschaft wird halten, manche auch nicht. Ich kann nicht hier und da und überall sein. Ich verlasse, bin verlassen. Ich verpasse und werde verpasst. Ich bewerte und werde bewertet. Und manchmal verliere ich den Mut. Meine Seele im Keller. Singt sich wieder hoch. Fliegt. „Du meine Seele, singe!“
Du, lieber Freund, hast mein Herz erwärmt. Du, liebe Freundin, hast mein Leben gefüllt, ich hab‘ durch Dich was gelernt. Du, genau Du, hast einen Platz in meinem Herzen. Du, genau Du, bist für mich immer noch ein Schatz. Der der aus mir den Menschen, der ich bin, gemacht. Ich vermisse Dich und doch weiß ich: die Zukunft wird nun anders mit Dir. Ich kann Dir nur danken. Unbeschwert singt meine Seele. Mein Leben lang erinnere ich mich an Dich. „Du meine Seele, singe!“
Unbeschwerte Freude gehört nicht zu den Gefühlen, die gerade weit verbreitet sind.
„Wie kann es dir in dieser Zeit gut gehen!? Siehst du nicht, was hier gerade los ist?“ Streng herrscht mich die Stimme an, als ich gerade in die Welt lächele, das Herz voller Zuversicht und Hoffnung. „Du meine Seele, singe!“Ja, wie kann ich es mir gut gehen lassen, während da draußen in der Welt die grausamsten Dinge geschehen? Wie kann ich da Leichtigkeit empfinden, Freude, sogar Glück? Bin ich denn von Sinnen? Sehe ich denn nicht, was hier los ist?
„Du meine Seele, singe!“ Auch der Lieddichter Paul Gerhardt wusste, welches Ausmaß das Leid haben kann. Im Gesangbuch steht unter dem Lied die Jahreszahl 1653. Das ist nur 5 Jahre nach dem Ende des 30-jährigen Krieges. Dessen Schrecken und Leid noch allen in den Knochen steckten. Dies Lied ist entstand nicht aus einer heilen Welt heraus. Die Bilder, die diese Menschen vor Augen hatten, stammten aus dem eigenen Erleben. Von Kriegsgräueln, Hunger, Not, Pest, Tod.

Das Lob dieses Liedes ist Vertrauen auf Gott – trotz dieser Wirklichkeit. Ein Trost für die, die unter Unrecht leiden. Eine Stütze für die, die nicht mehr können. Eine Hoffnung für alle, die an die Grenzen ihrer Kraft oder ihres Lebens kommen. Und eine Quelle der Widerstandskraft, die uns hilft, gegen das Unrecht, gegen den

Krieg, den Hunger, die Ausbeutung und die Ausgrenzung aufzustehen. Unsere Stimme zu erheben. Und zu helfen, wo wir können. „Du meine Seele, singe!“ Im ev. Gesangbuch die Nr. 302. Singen Sie mit. Und bleiben Sie behütet.

Hiltrud Warntjen, Pfarrerin i.R.