Du hast mir gar nichts zu sagen! Oder?

Zuletzt aktualisiert am 27. Mai 2021

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, heißt der Monatsspruch für Juni 2021 (Apg. 5,29). „Stimmt“, denke ich, und möglicherweise geht es Ihnen ähnlich. Das ist so ein Satz, den man – vorausgesetzt man glaubt an Gott – nur richtig finden kann. Und es steigen Bilder in uns auf: Martin Luther vor dem Reichstag in Worms zum Beispiel. Der sich außerstande sieht, seine für die Autoritäten seiner Zeit gefährlichen Schriften zu widerrufen, solange er nicht durch Gründe der Schrift oder der Vernunft widerlegt worden wäre. Und andere Streiter*innen für den Glauben, christliche und nicht-christliche kommen in den Sinn: Von der Heiligen Corona bis Mahatma Gandhi.

Was aber, wenn es nicht nur Worte über die Helden der Vorzeit sind, sondern Worte für Dich und mich? Man könnte ja, halb spielerisch, halb im Ernst mit diesen Worten jede Verweigerung gegen Forderungen an uns begründen: „Maskenpflicht einhalten? Du hast mir gar nichts zu sagen, denn man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Einkünfte korrekt versteuern? Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten? Mein Zimmer aufräumen? Du hast mir gar nichts zu sagen! Steht schon in der Bibel: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Man könnte auf die Idee kommen, jede unangenehme Forderung mit dem Hinweis auf die Apostelgeschichte zurückzuweisen.

Klingt das für Sie an den Haaren herbeigezogen? Vielleicht, aber warum eigentlich? Die Schwierigkeit scheint zu sein: Was Gott in den schnell zu treffenden Entscheidungen des Alltags von uns will, erfahren wir in der Gestalt der Stimme des Gewissens. Einer inneren Stimme also, bei der man nie so ganz sicher sein kann, wer da eigentlich spricht. Woher wusste Luther, dass Gott von ihm Standhaftigkeit verlangte und nicht nur sein Starrsinn und seine Eitelkeit? Wer spricht da in mir? Spricht Gott, oder spreche ich?

In der Apostelgeschichte ist es der Apostel Petrus, der diese Worte prägt. Und für ihn ist die Frage vergleichsweise leicht zu entscheiden, denn ihm und den anderen Aposteln wollen die Mächtigen ihrer Zeit verbieten, öffentlich von Jesus Christus zu berichten. Gott kann nicht wollen, dass wir nicht von seinen heilsamen Taten berichten. Deshalb liegt die Reaktion des Petrus auf der Hand: „Wir können dieses Verbot nicht befolgen. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“. Bei den Alltagsentscheidungen heute wird es hingegen schon etwas schwieriger.

Soviel ist jedenfalls klar: Es heißt, wir müssen Gott „mehr“ gehorchen als den Menschen. Dass wir Menschen gar nicht gehorchen sollen, steht da nicht, und das ist gut so. Keine Gesellschaft kann bestehen, wenn die, die zu ihr gehören, nicht bereit sind, sich auch da an Regeln zu halten, wo sie unbequem werden. Andererseits ist in der Geschichte durch blinden Gehorsam unermessliches Leid über die Menschheit gebracht worden. Wo genau liegt da die Grenze zwischen dem Gehorsam, der sein muss, und dem, der nicht sein darf?

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, heißt es. Was hat Gott von seinem Willen bekannt gemacht, das uns hilft, hier zu entscheiden? Da müssen wir in den Heiligen Schriften nachsehen, und übrigens längst nicht nur in der christlichen Bibel. Ich bin überzeugt: In welchen Texten des Glaubens auch immer wir schauen, wir werden finden, dass Gott dies will: Dass es möglichst allen möglichst gut geht.

Dafür und nur dafür sind nach christlichem Verständnis in dieser Welt Autoritäten – von den Eltern bis zum Präsidenten – eingesetzt. Manchmal vergessen sie das, und dann haben wir der inneren Stimme, die zum standhaften Widerstand ruft, zu gehorchen. Weil man Gott mehr zu gehorchen hat als den Menschen. Womöglich öfter aber, als es die innere Stimme vorgibt, dient das Unangenehme, das gefordert wird, dem Ziel, dass es möglichst allen möglichst gut geht. Das sind die Fälle, in denen wir, ob gerne oder nicht, der inneren Stimme zurufen müssen: „Du hast mir gar nichts zu sagen!“

Wolfgang Kürschner, Evangelischer Pfarrer in Cloppenburg