Memento mori

Am letzten Sonntag im November wird landauf, landab in den evangelischen Kirchen der Verstorbenen des zu Ende gehenden Jahres gedacht. „Totensonntag“ sagt man gemeinhin. Wir Pastoren versuchen, stattdessen den Begriff „Ewigkeitssonntag“ einzubürgern, weil er den Blick vom Vernichtenden des Sterbens hin zum Perspektivischen eines Lebens in der Ewigkeit Gottes verschieben würde. Bisher scheint mir dieser pastorale Reframing-Versuch eher erfolglos. Die Gläubigen nennen den Sonntag so, wie sie ihn empfinden, und so, wie sie ihn brauchen: Totensonntag.

Wir brauchen diesen Tag, brauchen die gemeinsame Vergewisserung, dass unsere verstorbenen Lieben nicht vergessen sind. Wer an diesem Sonntag in seine evangelische Kirche kommt, findet sich dann womöglich plötzlich mit einem Bibelwort konfrontiert, das den Blick von denen, die vor uns gehen mussten, unversehens ein wenig weglenkt: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ (Psalm 90, 12)

Also nicht nur die Oma, den Opa, den Freund oder Nachbarn trifft’s, so ruft uns der Wochenspruch für den Totensonntag in Erinnerung, sondern: uns. Oder, wer weiß, am Ende sogar mich. Weil wir das ja eigentlich auch wussten, weil wir es halb burschikos, halb geistreich zu verdrängen suchten mit der Bemerkung „Die Einschläge kommen näher“, darum ist es gleichermaßen hart und befreiend, dass uns dies gleich am Kircheneingang entgegengestreckt wird: Bedenken, dass wir sterben müssen. Etwas, das wir lernen wollen, oder doch zumindest lernen wollen sollen.

Damit wir klug werden… was mag diese Klugheit umfassen? Klug wäre das, was bei der allgemeinen Endlichkeit hilft. Und da wird uns allenthalben einiges angeboten: gesund leben, nicht rauchen, nicht trinken, kein – was auch immer da gerade als besonders ungesund gilt –, und Bewegung, viel Schlafen aber auch nicht zu viel usw. usf. Ich will dagegen gar nichts sagen. Wer sollte auch gegen einen Satz wie „Lehre uns bedenken, dass wir sterblich sind, damit wir so klug werden, gesund zu leben“ etwas einzuwenden haben? Nur ändert das gesunde Leben an der bloßen Tatsache der Endlichkeit unseres Lebens rein gar nichts. Wir wissen eben auch, dass der ganze Gesundheits-, Schönheits- und Fitnesswahn Gefahr läuft, Versprechen zu machen, die er nicht halten kann. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen – egal ob gesund oder nicht!

Als es noch nicht möglich war, das Sterben in darauf spezialisierte Institutionen auszugliedern, und als jeder Mensch jederzeit damit rechnen musste, von der Pest oder einer anderen Seuche dahingerafft zu werden, da hatten Bücher zum Thema „Die Kunst des Sterbens“ eine weite Verbreitung. Letztlich ging es auch in diesen Texten schon um dasselbe, was heute die Psychologin Verena Kast „abschiedlich leben“ nennt. Abschied und Leben, das klingt zunächst wie ein Gegensatz: Wir assoziieren mit Abschied eher den Tod. Aber der Abschied ist nun einmal Teil unseres Lebens, so sehr er uns auch schmerzt. Er ragt immer in unser Leben hinein. Darein sich zu finden, ist das Thema abschiedlichen Lebens, und das macht mit den Worten des 90. Psalms klug.

Abschiedlich leben, das könnte heißen: sich von nichts und niemand abhängig machen, wohl aber alle schönen Dinge und alle guten Kontakte, die der Gott des Lebens uns hinhält, dankbar genießen. Und es könnte bedeuten, sich klar zu sein, dass wir uns mit unserem Leben für etwas einsetzen müssen ohne die Illusion, allein die Welt retten zu können. Bezogenheit ohne Abhängigkeit, Genuss in Dankbarkeit, ein Ziel ohne Selbstüberhebung – all das sind für mich lockende Züge einer Klugheit, die entsteht, wo wir uns unserer eigenen Endlichkeit stellen.

Wolfgang Kürschner, Ev. Pfarrer. Cloppenburg