Die Nacht zum Tage machen

Liebe Leserinnen und Leser,

Holger Ossowski, Pfarrer in Garrel

die „Weißen Nächte“ sind bekannt, Nächte, in denen die Sonne nicht untergehen zu scheint. Und selbst um Mitternacht ist dann noch eine gewisse Dämmerung zu erkennen. Berühmt sind beispielsweise die „Weißen Nächte“ von St. Petersburg mit ihren umfangreichen kulturellen Veranstaltungen. Fjodor Dostojewski schrieb im Jahr 1848 unter diesem Titel sogar eine Novelle. Die Tage sind gefühlt länger und die Nächte dafür umso kürzer. Angenehme Außentemperaturen locken die Menschen auf die Straßen und laden zum Verweilen in Straßencafés, Eisdielen oder in Parks ein.

Die Sonne lässt die Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ablagerungen auf Fensterscheiben beispielsweise sind besonders dann gut sichtbar, wenn Sonnenlicht darauf fällt. Und wenn wir den Strahlen ins Zimmer folgen, bemerken wir vielleicht, wieviele kleine Staubpartikel durch die Luft wirbeln. Das, was sich zuvor im Teppich und unter Schränken versteckte, wird nun für alle sichtbar. Im Licht sehen wir, was die Dunkelheit zuvor verbarg. Wie sieht es da bei uns Menschen aus? Äußerlich gesehen ist eine ganze Menge zu erkennen: die Größe und Körperstatur, die Haar- und Augenfarbe beispielsweise. Doch das, was im Inneren eines Menschen vor sich geht, lässt sich nur begrenzt anhand äußerer Merkmale erschließen und erahnen.

Bestimmte Strahlen können ein Hilfsmittel sein, um einen Körper zu durchleuchten. Auf diese Weise wird sichtbar gemacht, was einem menschlichen Auge sonst verborgen bleibt. Von Jesus Christus heißt es, dass sich vor ihm niemand verstecken kann: er macht sichtbar, was andere verbergen wollen. Christus sagt: „Ich bin das Licht der Welt.“ (Joh 8,12) „Licht der Welt“ meint „Licht für die Welt“, die Sonne, die alles an den Tag bringt und Leben weckt. Wer Christus begegnet, kann keine Maske mehr tragen, die vor anderen versteckt. Alle Räume und Ecken in unserem Inneren werden von ihm durchleuchtet, nichts bleibt verborgen: eine geradezu schonungslose Offenheit.

Niemand lässt sich gern entlarven. Andererseits kann das auch befreiend sein. Bei Christus wird nicht aufgedeckt, um zu verdammen, sondern um einen anderen Weg aufzuzeigen: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“, heißt es bei Joh 8,12 weiter. Dieses Licht ist nicht nur Gericht, das dunkle Seiten in unserem Leben aufdeckt, sondern es wärmt und kräftigt zugleich. Die Helligkeit, die hier gebracht wird, führt einen Menschen in ein anderes Leben. Die eigene Nacht wird so zum Tag gemacht.

Holger Ossowski

Pfarrer der Ev.-luth. Kirchengemeinde

Garrel und Kreisdiakoniepfarrer