Punkte in Flensburg und die goldene Regel
Ein LKW vor mir auf der B72. Er blinkt nach links, um mir zu signalisieren, dass ich gefahrlos überholen kann. Das tue ich. Und danach sage ich „Danke“, indem ich kurz den Warnblinker aufleuchten lasse. Als „Bitteschön“ macht er die Lichthupe. Herrlich!
Gelingende Kommunikation, ja sogar Höflichkeit, Etikette – und das im Straßenverkehr unter Menschen, die sich niemals wieder im Leben sehen werden. Völlig anonym und doch irgendwie verbunden. Auch schon ein kurzes Handheben als dankende Reaktion, wenn ich jemanden vorlasse, macht mir einfach gute Laune.
Geradezu erstaunlich finde ich allerdings, wenn mir jemand per Lichthupe anzeigt „Achtung Blitzer!“.  Denn davon hat der Warnende selbst ja überhaupt nichts. Man könnte sogar ganz im Gegenteil argumentieren, dass es im Sinne der Verkehrssicherheit von uns allen ist, wenn Temposünder einen Denkzettel bekommen. Aber weit gefehlt, einen Fremden vor Punkten in Flensburg zu schützen wird offenbar als wichtiger angesehen – und das wie gesagt ohne eigenen Vorteil.
„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten (Mt 7,12)“ so die sogenannte goldene Regel, wie Jesus sie formuliert hat. Und bei Jesus umfasst diese Regel weit mehr als das landläufige „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Letztere Variante ist schließlich passiv formuliert: Wenn ich gar nichts tue, wäre ihr Genüge getan. Jesus aber sagt es positiv: Seid aktiv! Tut das im Voraus anderen, was ihr von ihnen getan haben wollt!
Und ja, damit ist ohne jede Frage unendlich viel mehr gemeint. Aber ich habe konservativ geschätzt etwa eine Million mal den Satz gehört „Die Gesellschaft wird immer egoistischer“. Und hilfreich finde ich den nicht, ganz im Gegenteil. Nun habe ich mein Beispiel, um zu entgegnen: „Aber im Straßenverkehr, beim Warnen vor Blitzern, da klappt’s! Da tun wildfremde Menschen, die sich niemals wieder begegnen werden, ohne eigenen Vorteil anderen das, was sie für sich selbst getan haben wollen.“ Ich gebe zu, das ist nicht das beste Beispiel. Wahrscheinlich nicht einmal ein Gutes. Aber wer weiß, womöglich führt das dann dazu, im Gespräch den Blick darauf zu lenken, wo etwas Vergleichbares passiert, und zwar in ernster zu nehmenden Ausmaßen. Positivbeispiele bringen uns glaube ich mehr voran als Lamentieren. Ich bin mir sicher, es gibt sie. Und vielleicht wäre es nicht die schlechteste Idee, uns gegenseitig davon zu erzählen. Kennen Sie eins?
Pfarrer Johannes Rohlfing, Friesoythe

