Wo ist der Vater, wenn man ihn braucht?

Liebe Leser und Leserinnen,

„Es gibt einen sicheren Weg zum Glück und Erfolg!“ Viele Menschen hören ein solches Versprechen gern. Nach der älteren alttestamentlichen Weisheitslehre beispielsweise wurde demjenigen Glück und Erfolg versprochen, der sich an Gottes Ordnungen hält. Wer so handle, dem könne es nur gut ergehen. Wenn ein Mensch allerdings Unglück habe, so habe er sich dieses selbst zuzuschreiben. Demnach wären Glück oder Unglück das Ergebnis des eigenen Verhaltens. Aber stimmt das so?
Der Alltag lehrt uns Anderes: Allzu oft widerlegt die eigene Erfahrung diese Annahme. So ist ein dauerhaftes Glück keinem Menschen beschieden. Diese Lebenserfahrung forderte eine kritische Auseinandersetzung, wie sie uns bereits in der alttestamentlichen Lehrdichtung des Buches Hiob begegnet: Hiob erleidet als gottesfürchtiger Mann völlig schuldlos schwere Schicksalsschläge. Kluge Ratschläge seiner Freunde verfehlen dabei die Realität völlig.
Die Weisheit konnte den Anschein erwecken, auf alle Lebensprobleme eine Antwort zu wissen. Der von der Weisheitslehre vermutete Zusammenhang zwischen Tat und Auswirkung: Menschen könnten dazu verführt werden, die Gebote Gottes nur deshalb zu befolgen, weil sich diese Verhaltensweise vermutlich für sie auszahlte. Das ist der Verdacht, den der Satan als Ankläger vor dem Thron Gottes ausspricht (Hiob 1,9). Dieser Extremfall im Hiob-Buch stellt die ältere Weisheit in Frage.
Im Leben lässt sich nie mit Sicherheit sagen, dass ein Mensch ohne Schuld ist. Im Einzelfall wird jedoch ein Missverhältnis  zwischen der Geringfügigkeit einer Schuld und dem Übermaß an Unglück festzustellen sein. Auch der leidgeprüfte Hiob wehrt sich gegen die Unterstellungen und beruft sich auf seine Unschuld. In seinem Leid wendet er sich immer wieder an Gott und erlebt diesen oft als abwesend. Der Name Hiob bedeutet übersetzt „Wo ist der Vater?“ – und wir könnten gedanklich hinzufügen:  „… wenn man ihn braucht“.
Gedanken an den gekreuzigten Jesus werden wach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft Jesus am Kreuz (Mt 27,46). Das sind die Anfangsworte aus Psalm 22 (Vers 2). Die christliche Gemeinde verbindet diesen Psalm mit dem Leiden Jesu. Im Leiden Jesu erfüllte sich, was der Beter von Psalm 22 aussprach: Besonders Ps 22,4-6 spricht aber eben nicht von einem entrückten Gott, der den Nöten der Menschen fern ist, sondern von einem Gott, der sich immer zu seinem Volk bekannte und ihm – trotz allem – Grund zu Lobgesängen gegeben hat: „… Zu dir schrien sie und wurden errettet …“ (Ps 22,6)
Im alttestamentlichen  Buch des „Predigers“ (Kohelet)  tritt die Erkenntnis zu Tage, dass nur Gott den Sinn aller Dinge kennt. In Ehrfurcht  sollten die Menschen Gottes Entscheidungen anerkennen und sich darüber freuen, was Gott ihnen zugeteilt hat. Bewusst sollten die Menschen im Hier und Jetzt leben und nicht über Gewesenes und Zukünftiges spekulieren. Denn ein menschliches Leben ist jeder Voraussage entzogen. Nur durch Ehrfurcht vor Gott und durch die Freude am Guten des Lebens können Menschen ihren Teil am Werk Gottes finden.
Die Formel „Simul iustus et peccator“ (lat. für „zugleich gerecht und Sünder“) bringt es auf den Punkt: nach Martin Luther ist ein Christ bzw. Christin allein durch Gnade vor Gott durch den Glauben als gerecht angesehen und bleibt doch weiterhin ein Sünder bzw. Sünderin. Und das geschieht unabhängig von den eigenen Werken. Dahinter steht die Notwendigkeit der Umkehr und des Glaubens. – Hiob weiß sich am Ende durch alle Zurechtweisung hindurch von Gott angenommen. Das Leid, das über ihn gekommen ist, hat er angenommen und kann in der Gemeinschaft mit Gott bestehen.

Holger Ossowski, Pfarrer der Ev.-luth. Kirchengemeinde Garrel, Kreisdiakoniepfarrer