Mein Rasierer und das Rätsel der Identität

Früher haben Elektrogeräte länger gehalten, so sagt man. Meinen Elektrorasierer habe ich seit dem Abitur, er war ein Geschenk. Und daher ist er kein seelenloser Gebrauchsgegenstand, sondern hat einen emotionalen Wert für mich. Doch sein fortgeschrittenes Alter macht sich zunehmend bemerkbar. Gerade musste ich mal wieder den Scherkopf ersetzen. Und seit einiger Zeit tut er es nur mit dem Kabel in der Steckdose, weil der Akku den Geist aufgegeben hat – der muss also auch neu. Aber was ist eigentlich, wenn eines Tages auch noch das Gehäuse kaputt geht und auch das einem neuen weicht – ist das dann noch mein Rasierer? Wenn alle einzelnen Bestandteile ersetzt wurden? Kein Einzelteil mehr da ist, das von Beginn an den ganzen Weg mit mir gegangen ist?
Dunkel erinnere ich mich, dass ich nicht der erste bin, der sich diese Frage gestellt hat. Es gibt ja bekanntlich nichts Neues unter der Sonne. Im uralten philosophischen Gedankenexperiment „Das Schiff des Theseus“ wird schon gegrübelt: Wenn jedes einzelne Brett eines Schiffes nach und nach ersetzt wird – ist es dann noch dasselbe Schiff? Und wenn man die alten Bretter sammelt und daraus ein neues Schiff baut – welches ist dann das „echte“? So viel steht jedenfalls fest: Einfach nur die einzelnen Teile zusammengenommen können noch nicht das Ganze ergeben. Dafür ist alles viel zu sehr im Fluss. Auch das hatte doch mal einer der alten griechischen Philosophen gesagt, „alles fließt“. Also doch Neues unter der Sonne? Und zwar in jedem Moment? Steht denn gar nichts still?! Langsam werde ich ein wenig unruhig. Und das wird nicht besser als mir klar wird, das selbst ich, mein ganzer Körper, permanent im Wandel begriffen ist. Jede Zelle in mir macht gerade irgendetwas. Da war doch was mit Mitose und Meiose? Bei diesen ganz dünnen Erinnerungen an den Bio-Unterricht aus lange vergangenen Tagen wird mir auch das noch schmerzlich bewusst: Nicht einmal mein Inneres, mein Geist, taugt als Stabilitätsanker. Mein Erinnerungsvermögen kann das unmöglich leisten. Denn wie viel über mein Leben entzieht sich meinem Bewusstsein? Ich weiß doch nicht einmal mehr, was ich letzten Dienstag zu Mittag gegessen habe. Ja, mir fehlen ganze Jahre meines Lebens, nämlich die ersten. Und wer weiß, wie es mit den letzten werden wird?!
„Alles fließt“ so sagt es der Philosoph, und bevor ich selbst kurz davor bin, innerlich dahin zu fließen, wird bewusst, dass es ein Ufer geben muss. In dem dieses unendlich komplexe Fließen passiert. Ein festes Gegenüber zu allem, was in Bewegung ist. Das unbewegt schon war, bevor alles in Bewegung geriet. Ewig und unveränderlich. Bei dem muss auch die Antwort auf meine Frage nach der Identität zu finden sein. Und dort ist sie auch zu finden. „Gott sei Dank“, denke ich, „doch noch die Kurve gekriegt und keine existenzielle Krise am Morgen!“. Und, dass ich schon lange nicht mehr so gründlich rasiert war.

Pfr. Johannes Rohlfing, Friesoythe