„Jeder Mensch braucht einen Hoffnungsschrank“
Nun ist sie schon 20 Jahre lang tot. Am 27. April. Dorothee Sölle. Eine meiner theologischen Mütter. Gleicher Jahrgang (1929) wie mein Vater. Einer meiner theologischen Väter. Beide viel zu früh verstorben. So gerne würde ich sie noch so vieles fragen. Ob sie immer noch pazifistisch sind. Immer noch an der Seite der Schwachen. Der Kleinen. Der Benachteiligten. Der Armen. An der Seite der bedrohten Schöpfung. Gegen die Mächtigen. Die Obrigkeiten. Die Kriegstreiber. Widerständig und furchtlos. Selbst denkend und eigensinnig.
2001 schreibt sie: „Ich werde manchmal gefragt, warum ich denn „immer noch“ für Gerechtigkeit, Frieden und die gute Schöpfung eintrete. „Immer noch?“ frage ich zurück, wir fangen doch gerade erst an, aus der Verbundenheit mit dem Leben heraus zu kämpfen, zu lachen, zu weinen.“ (in: Den Rhythmus des Lebens spüren). Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Auch meine Herzensthemen. Weltlich und theologisch. Immer wieder standen und stehen Entscheidungen an. Ob ich mich in der Kirche engagiere? Ob ich politisch aktiv werde? Ob ich Verantwortung übernehme? Für Kranke, für Alte, für Einsame? Für Kinder und Jugendliche? Für Frauen? Für die Bewahrung der Natur, die uns umgibt, in der wir atmen und von der wir leben?
In „loben ohne lügen“ (2000) fand Dorothee Sölle berührende poetische Worte: „Zeitansage / Es kommt eine zeit / da wird man den sommer gottes kommen sehen / die waffenhändler machen bankrott / die autos füllen die schrotthalden / und wir pflanzen jede einen baum / Es kommt eine zeit / da haben alle genug zu tun / und bauen die gärten chemiefrei wieder auf / in den arbeitsämtern wirst du / ältere leute summen und pfeifen hören / Es kommt eine zeit / Da werden wir viel zu lachen haben / und gott wenig zum weinen / die engel spielen klarinette / und die frösche quaken die halbe nacht / Und weil wir nicht wissen / wann sie beginnt / helfen wir jetzt schon / allen engeln und fröschen / beim lobe gottes.“
Worte, die nähren. Die Hoffnung schenken. Die stärken und Mut machen. Neue Kraft geben. Worte für meinen Hoffnungsschrank. In den 60er Jahren wurde sie bekannt durch das Politische Nachtgebet. Eine neue ökumenische Gottesdienstform. In dem sich Engagement und Spiritualität verbinden. Dorothee Sölles Lebensfrage lautete immer wieder: Wo war Gott, als Auschwitz geschah? Und: Wie können Christen heute von einem „Herren, der alles so herrlich regieret“ singen, angesichts dessen, was geschieht? Ja, sie bleibt streitbar und umstritten. Politische Aktivistin und zugleich tief fromm. Lehrte Theologie, sprach auf Kirchentagen, protestierte gegen Krieg und Atomkraft und schrieb berührende Gedichte. Prägte eine ganze Generation in Kirche und Gesellschaft.
Dorothee Sölle stellte sich der Vergangenheit. Entwarf eine Theologie nach Auschwitz. Provozierte. Zum Beispiel mit Thesen wie, dass theologisches Nachdenken oder das Gebet ohne politische Aktionen und Konsequenzen einer Heuchelei gleichkomme. Sie suchte nach einer glaubwürdigen Glaubenspraxis. Engagierte sich in der Friedensbewegung. Und in der feministischen Theologie. Und musste sich mit dem Vorwurf der Häresie – also der Ketzerei oder Irrlehre – auseinandersetzen. Warum? Weil sie etwa mit dem Team des Politischen Nachtgebets im Gottesdienst Themen wie den Vietnam-Krieg oder die Obdachlosigkeit in Köln aufgriff und zu konkreten Aktionen aufrief.
Sie fand Gehör, denn ihre Sprache hat Kraft und berührt. Auch heute noch. Sie reißt mit und ruft zur Verantwortung. In einem Glaubensbekenntnis (1969) formuliert sie: „Ich glaube an den geist, / der mit jesus in die welt gekommen ist, / an die gemeinschaft aller völker / und unsere verantwortung für das, / was aus unserer erde wird: / ein tal voll jammer, hunger und gewalt / oder die stadt gottes. / Ich glaube an den gerechten frieden, / der herstellbar ist, / an die möglichkeit eines sinnvollen lebens / für alle menschen, / an die zukunft dieser welt gottes.“ (Meditationen & Gebrauchstexte, Gedichte)
Wenn in der Kirche nur noch müde Resignation zu hören ist oder selbstzufriedene Innerlichkeit, wenn Ostern nur noch das Fest der Hasen und der Eier ist, dann wünsche ich mir, dass eine wie Dorothee Sölle aufsteht und laut dazwischenruft: „Meine Tradition hat uns wirklich mehr versprochen! Ein Leben vor dem Tod, gerechtes Handeln und die Verbundenheit mit allem, was lebt, die Wölfe neben den Lämmern und Gott nicht oben und nicht später, sondern jetzt und hier. Bei uns, in uns.“ (Den Rhythmus des Lebens spüren, 2001)
Ja: Die Wölfe neben den Lämmern, nicht weniger verheißt uns Ostern. Leben vor dem Tod. Und Gott bei uns und in uns. Der Stein ist vom Grab gewälzt, die Frauen erzählen die frohe Botschaft der Auferstehung. Auch heute. Und 1995 schreibt sie: “Jeder Mensch braucht einen Hoffnungsschrank.“ (Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit). Für mich ein wunderbarer Erste-Hilfe-Satz. Geschichten, Verse, Musik, Lebenserfahrungen, die den eigenen Hoffnungsschrank bevorraten! Davon kann ich gar nicht genug haben!
Hiltrud Warntjen, Pfarrerin i.R.