Andachten

Du siehst mich….

Zuletzt aktualisiert am 9. Januar 2023

Du siehst mich

„Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du bist die Mutter, die liebt.“ So singt ein neues Lied.

Neulich ging ich auf dem Heimweg noch rasch in der Bäckerei vorbei. Es war schon dunkel, später Nachmittag. Der Laden fast leer, das Angebot übersichtlich. Vor mir standen zwei, die offensichtlich zusammen gehörten. Geschwister. Das größere Kind reichte mit seinen Händen gerade an den Verkaufstisch. Versuchte, seine Nasenspitze auch auf diese Höhe zu bringen. Das kleinere schaute vertrauensvoll das ältere an.

Die Verkäuferin hatte uns den Rücken zugedreht. Sortierte die bescheidene Auswahl neu. Als ich hereinkam, drehte sie sich um. Fragte mich, was ich haben wolle. Zwei Paar Kinderaugen schauten mich ebenso an. Ich zeigte auf die beiden. „Die sind vor mir dran!“. Ganz leise kam ihr Wunsch nach ganz normalen Brötchen. Leider schon ausverkauft. Und schwupps, waren die beiden schon wieder weg.

Und wissen Sie was? Als ich da so stand, als ich das so miterlebte … da war ich sofort wieder sechzig Jahre jünger. Erinnerte mich an das Gefühl, wie das ist, wenn man nicht an den Verkaufstisch heranreicht. Wie das ist, wenn Große sich vordrängeln. Wenn man nicht gesehen wird. Wenn man über-sehen wird. Wusste sofort wieder, wieviel Geduld es oft braucht. Wie man abwägen musste zwischen guter Erziehung und sich lautstark bemerkbar machen. Spürte die Dankbarkeit wieder. Erinnerte mich, wie es war, wenn Menschen etwas Platz machten für mich. Mich nach vorn ließen. So dass ich eine Chance hatte, dran zu kommen.

Die mich kennen, wissen: ich habe nie zu den Großen gehört. Obwohl ich die Älteste war von uns Kindern in der Familie. Mein nächstes Geschwister hatte mich körperlich sehr schnell eingeholt. So eine Ungerechtigkeit! Aber es war so. Und später in der Schule, das Aufstellen in einer Reihe im Turnunterricht. Der Größe nach. Immer stand ich zwischen den letzten, den kleinsten am Ende der Reihe. Und die Großen ließen uns ihre körperliche Überlegenheit oft spüren.

Die zwei da an der Brötchentheke. Die hatten sofort mein ganzes Mitgefühl. Und ich dachte: Menno, warum rufen die denn nicht? Warum warten sie so geduldig? Warum machen sie sich nicht bemerkbar? Und dann dachte ich ganz schnell schon wieder an mich. Und erinnerte mich: es braucht gute Erziehung. Und Geduld. Und Hoffnung. Ganz viel Hoffnung. Dass sich die Verkäuferin endlich umdreht und mit ihrem Sortieren fertig ist.

Wir Kleinen, wir müssen uns oft richtig anstrengen, dass wir gesehen werden. Das ist bei mir bis heute so geblieben. Es ist schon etwas her, da bereitete ich mit Konfirmanden und Konfirmandinnen eine Ausstellung vor. In der Klosterkirche. Ein Reporter kam dazu. Fragte die Gruppe, wo denn die Pfarrerin sei. Lautes Gelächter. Große Verwirrung. Ich meldete mich. Sagte nur: „Hier bin ich.“ Er hatte mich schlicht übersehen. So mitten unter den Konfis. Es wurde ein nettes Interview mit der Gruppe.

In großen Gruppen, wo man eng beieinander steht, fühle ich mich am Rand am wohlsten. Oder in der vordersten Reihe. Da werde ich wenigstens gesehen. Vielleicht kennt der eine oder die andere von Ihnen ja auch dieses Gefühl: sich recken und strecken müssen, damit man gesehen wird. Besonders gut zu sein. Damit man überhaupt gesehen wird.

„Du bist ein Gott, der mich anschaut!“

Sagt eine Frau. Hagar. Die geflohen ist. In die Wüste. Weil sie es dort nicht mehr ausgehalten hat, wo sie lebte. Einfach abgehauen. Eigentlich eine Kurzschlussreaktion. Was soll sie denn jetzt bloß machen? So allein in der Wüste? Wie dumm war das denn? Aber zurück? Nein, zurück will sie auch nicht!

Da begegnet ihr ein Engel. Findet sie dort, in der Wüste. An einer Wasserquelle. Spricht ganz freundlich zu ihr: „Was machst Du denn hier? Wo kommst Du her? Wo willst Du hin?“ Und sie erzählt von ihrem Leid. Dass sie es dort nicht mehr ausgehalten hat. Dass sie fliehen musste. Der Engel hört zu. Verständnisvoll. Schickt sie zurück. Mit der Zusage: Gott hat dein Elend gesehen. Und sie erkennt:

„Du bist ein Gott, der mich anschaut!“

Diese Erfahrung – das Gesehen-werden – will uns durch das neue Jahr begleiten. Die Jahreslosung für 2023. „Du siehst mich!“ Ja, ich freue mich darüber. Gott sieht! Sieht mich. Und Dich. Und alle. Ganz egal, wie klein oder wie groß wir sind. Ganz egal wie nett oder nicht nett wir gerade unterwegs sind. Das Lied vom Anfang habe ich weiter geschrieben:

„Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die mir mir hält. Du bist Gott, der mich frei macht. Du bist die Mutter, die liebt.

Du bist ein Gott, der mir nah ist, du bist die Liebe, die mich erhört. Du bist ein Gott, der mich stark macht. Du bist die Mutter, die liebt.

Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die Wärme schenkt. Du bist ein Gott, der mich tröstet. Du bist die Mutter, die liebt.

Du bist ein Gott, der mich segnet. Du bist die Liebe, die mich berührt. Du bist ein Gott, der mir Mut macht, Du bist die Mutter, die liebt.“

Hiltrud Warntjen, Pfarrerin i.R.